Die Geschichte der GrossmütterRevolution 2010–2022

Von Monika Fischer

Wir sind Think Tank, Netzwerk und Plattform der heutigen GrossmütterGeneration und ein Projekt für alle Frauen, unabhängig, ob sie biologische Grossmütter sind oder nicht.

Wir verstehen uns als soziale Bewegung, die gesellschaftsrelevante Themen und Anliegen zu Alter, Frausein und Generationen aufnimmt, bearbeitet und sich dazu verlauten lässt.

Wir veranstalten regelmässig öffentliche Tagungen und führen eine Vielzahl von selbstorganisierten Arbeitsgruppen.

Einführungstext auf der Website www.grossmuetter.ch

Ein ausführliches Gespräch mit der Projektleiterin

Das Gespräch mit der Projektleiterin Anette Stade zeigt die Entstehung, die Strukturen und die Entwicklung der GrossmütterRevolution (GmR) auf. Es hebt einige Ereignisse heraus und geht der Frage nach, was die GmR so erfolgreich gemacht hat.

Ausgangspunkt war 2009 die Idee eines Generationenprojekts. Heinz Altorfer, Leiter der Abteilung Soziales beim Migros-Kulturprozent (MKP), engagierte die Projektentwicklerin Anette Stade und diskutierte mir ihr mögliche Ideen zum Thema Generationen. Eine Tagung mit älteren Frauen hatte bereits in der Vergangenheit beim MKP das enorme Potential der Frauen der GrossmütterGeneration aufgezeigt. Warum nicht auf diese Gruppe fokussieren und das Thema weiterverfolgen? Um deren Bedürfnisse und Anliegen zu erfahren, luden Heinz Altorfer und Anette Stade je drei Frauen aus ihrem Bekanntenkreis mit einer gewissen gesellschaftspolitischen Referenz zu einer Planungsgruppe ein. Diese traf sich mehrmals, besprach Anliegen und mögliche Tagungsformate und entwickelte daraus die Zukunftswerkstatt. 

Der Name «GrossmütterRevolution» wurde von einer Vortragsreihe zum Thema «AltersRevolution» von der Planungsgruppe adaptiert, was dem MKP anfänglich nicht sonderlich gefiel. Dies änderte sich nach einer ausführlichen Begründung durch die Historikerin Heidi Witzig, die selber Mitglied der Planungsgruppe war.

Als erfahrene Projektleiterin hatte Anette Stade von Anfang an die Struktur einer zweitägigen Zukunftskonferenz im Frühling und einer Ergebniskonferenz im Herbst im Kopf. «Für mich ist bei einem Projekt der partizipative Ansatz in Bezug auf Inhalt und Form wichtig. Er ist eine gute Grundlage für selbstorganisierte Arbeitsgruppen.» Für das MKP war es Neuland, dass Inhalte nicht durch die Trägerschaft vorgegeben wurden, war doch nicht genau vorherseh- und steuerbar, was in einem Projektjahr entstehen würde. Mit Überzeugungsarbeit setzte Anette Stade ihren Ansatz durch. Schon bald zeigte sich, dass er erfolgreich funktionierte.

Aufbruch mit viel Energie und Potential

Die erste Zukunftswerkstatt vom März 2010 in Kiental wurde mit Flyern und Inseraten beworben. Mittels der Open-Space-Methode bestimmten die 56 Frauen 15 Themen, mit denen sie sich vertieft auseinandersetzen wollten. Einzig zwei Gruppenleiterinnen, die die Themen Finanzen und Grossmütterstreik vorgeschlagen hatten, fanden keine weiteren Interessentinnen. Anette Stade meinte rückblickend: «Wir merkten, wie viel Energie und welches Potential da zusammengekommen waren. Es herrschte eine echte Aufbruchstimmung.» An der Ergebniskonferenz im September 2010 in Zürich diskutierten die 80 Teilnehmerinnen, wie die Anliegen der GrossmütterGeneration in der Gesellschaft gehört werden können.

Das GrossmütterManifest

Den Teilnehmerinnen der Workshops war es zudem wichtig, im Jubiläumsjahr «40 Jahre Frauenstimmrecht» 2011 die Stimmen der 68er-Generation nicht nur als Rückblick, sondern auch als Ausblick hörbar zu machen. Eine spontan gegründete «Manifestgruppe» von elf Frauen diskutierte in den folgenden Monaten intensiv und hielt fest:

«Wir sind die Generation, die gesund, aktiv und politisch interessiert ins Alter geht. Wir übernehmen Verantwortung für unser Altern und arbeiten an sozialverträglichen Lösungen für ein Alter in Selbstbestimmung und Würde.

Wir sind die Generation, die solidarisch hinter den Jungen steht, privat wie politisch. Auch wenn wir eigene Meinungen vertreten: Wir stärken den Jungen den Rücken.

Wir sind die Generation, die stolz ist auf ihre Leistungen bezüglich Frauenrechte und Gleichstellung. Ein Anfang ist gemacht.»

Diese Sätze bilden die Einleitung zum GrossmütterManifest, das am 4. Juni 2011 anlässlich einer Kundgebung der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Für Anette Stade war es das erste grosse Highlight. Um die 250 Frauen nahmen an der Demo in Zürich teil. Viele Frauen der GrossmütterGeneration fühlten sich angesprochen und freuten sich: «Wow, endlich haben wir eine Plattform für unsere Anliegen.»

Alte Frauen sichtbar und hörbar machen

Ausgehend von den eindrücklichen Referaten an den Frühlingstagungen bildeten sich immer wieder neue selbstorganisierte Arbeitsgruppen. Diese befassten sich unter anderem mit dem Wohnen im Alter, mit einer neuen Frauen-Alterskultur, mit neuen Grossmütterbildern oder mit Würde und Selbstbestimmung im Alter. Sie legten damit die Grundlagen für verschiedene Studien und Berichte wie «Das vierte Lebensalter ist weiblich». Andere Frauen traten als Clownessen auf oder gründeten die Rockband crème brûlée.

Gemäss Anette Stade haben sich die zentralen Anliegen in den zwölf Jahren nicht wesentlich verändert, sondern eher noch differenziert: «Es war spannend, wie in den selbstorganisierten Arbeitsgruppen, die in der Regel super funktionierten, immer wieder neue relevante Themen aufgegriffen wurden. Es ging darum, dass alte Frauen sichtbar und hörbar werden und bleiben. Die Frauen wollen in ihrer Vielfalt an Rollen und Lebensentwürfen wahrgenommen werden. Sie wehren sich gegen Entscheide über ihre Köpfe hinweg und wollen Mitsprache bei Themen, die sie beschäftigen und betreffen. In diesem Sinn wurde die GmR zu einer Plattform und einem Netzwerk für gesellschaftspolitische Anliegen.»

Ausweitung auf die Südschweiz und Regioforen

2013 wurde auf Initiative von Norma Bargetzi ein Schwesterprojekt in der italienischen Schweiz unter dem Namen Movimento AvaEva gegründet. Dieses arbeitete eng mit der Projektleiterin der GmR zusammen und entwickelte gleichzeitig seine eigene Ausrichtung gemäss den regionalen Gegebenheiten im Tessin. Da für ein effektives gesellschaftliches Wirken im Tessin mehr Eigenständigkeit und Autonomie nötig waren, löste sich AvaEva im Sommer 2017 von der GmR und ist seither ein eigenständiges Projekt im Tessin.

2015 bildete sich mit den «Freien Frauen Bern» erstmals eine regionale Gruppe: das spätere RegioForum Bern. Es folgten RegioForen in Basel, Zürich und im Oberaargau. Zwei Anläufe zu einem RegioForum Zentralschweiz scheiterten, ein dritter ist in Planung.

Neuer Schwung

Es gab auch Enttäuschungen. In den ersten drei Jahren entstanden sehr viele Ideen und Arbeitsgruppen. Dieser anfängliche Schwung mit immer wieder neuen Arbeitsgruppen nahm mit den Jahren ab. Anette Stade stellte sich die Frage, wie der Nachwuchs gesichert werden könnte: «Es gab an den Tagungen jeweils eine Vielzahl an interessierten Frauen, die dann aber nicht in den Arbeitsgruppen

mitmachten oder neue gründeten. Deshalb organisierten wir 2017 eine Retraite mit dem Ziel, wie wir das Feuer der ‹alten Häsinnen› bewahren und gleichzeitig neue Mitstreiterinnen in unseren Kreis holen können?» Eine Folge davon war der strategische Entscheid, das bisherige Matronat, das der Projektleiterin beratend zur Seite gestanden war, um Vertreterinnen aller Arbeitsgruppen und der RegioForen zu erweitern, um so den aktiven Frauen eine breitere Mitsprache und Mitgestaltung zu ermöglichen.

Nach der Frühlingstagung 2019 zeigte sich, dass eine neue Generation von Frauen mit teilweise anderen Interessen herangewachsen war, die auf dem Bestehenden aufbauen und die Themen erweitern möchte – für Anette Stade ein notwendiger Prozess, der jedoch auch Reibung erzeugte.

Für das Jubiläumsjahr 2021 «50 Jahre Frauenstimmrecht» hatte die neue Arbeitsgruppe DOL & SOL – Dancing & Singing Old Ladies ein breites Programm für die ganze Deutschschweiz geplant: Alte Frauen wollten sich mit Tanzen, Singen, Disco und Politik im öffentlichen Raum sicht- und hörbar machen. Wegen der Pandemie konnten leider nur wenige Anlässe durchgeführt werden.

Veränderungen

Die Pandemie hat die GmR zwar beeinflusst, jedoch nicht wesentlich gebremst. Wohl bedauerten viele, dass sie sich nicht treffen konnten. Andererseits lernten sie Zoom als Kommunikationsmittel zu nutzen, sei es für die Sitzungen der Arbeitsgruppen oder sogar bei der Durchführung der Frühlingstagung 2021. Dies trug dazu bei, dass viele Frauen dank der Unterstützung von Anette die digitalen Hürden überwinden und dadurch länger partizipieren konnten. Und doch waren alle glücklich, als sie sich nach der Zeit des Rückzugs wieder live treffen und sogar umarmen konnten.

Umso stärker wirkte an der Frühlingstagung 2022 in Schwarzenberg die Ankündigung, dass sich das MKP in Folge eines Strategiewechsels aus der Finanzierung der GmR zurückziehen wird. Es war ein Schock. Viele konnten nicht verstehen, dass ein solch erfolgreiches Projekt seine finanzielle Basis verlieren sollte. Die bange Frage stand im Raum: Wird damit die GmR beerdigt oder gibt es Möglichkeiten der Weiterführung? Erfreulicherweise hatte sich bereits ein Team von vier im Matronat aktiven Frauen formiert, das mit Unterstützung des MKP den Übergang sichert und entschlossen ist, nach zwölf Jahren die finanzielle und organisatorische Trägerschaft in den gemeinnützigen Verein GrossmütterRevolution zu überführen.

Zunehmende Beachtung in der Öffentlichkeit

Es war seit jeher ein zentrales Anliegen der beteiligten Frauen, auch öffentlich sichtbar zu sein. Ist das gelungen? «Ja», meint Anette Stade, «die GmR hat zunehmend an Beachtung gewonnen». Sie erwähnt die Demo 2011 in Zürich anlässlich der Vorstellung des GrossmütterManifests und die Kundgebung 2017 in Bern zum Thema «Das hohe Alter ist uns teuer». Fachliche Beachtung fanden insbesondere die Studie «Das vierte Lebensalter ist weiblich» sowie die weiteren Studien und Berichte von Marie-Louise Barben und Elisabeth Ryter im Auftrag der Manifestgruppe. Seit seinem Bestehen im August 2014 kann die Arbeitsgruppe Kolumnen im Magazin «Grosseltern» eine Seite mit einer Kolumne und Wissenswertem über die GmR füllen.

Gemäss Anette Stade zeigt sich die zunehmende Aufmerksamkeit auch daran, dass die GmR durch ihre Studien zu einer wichtigen Referenz in Fachkreisen und für die Medien wurde. Journalist*innen von Zeitungen, Zeitschriften, Radio und Fernsehen suchen regelmässig bei der GmR nach Auskunftspersonen zu bestimmten Themen. «Allerdings hatte die vermehrte öffentliche Beachtung teilweise intern und extern auch negative Folgen, was ich so nicht erwartet hatte», meint die Projektleiterin. Das zeigte sich z.B. nach einem Interview, wo es darum ging, ob kostenlose Enkelbetreuung durch Grossmütter eine Verpflichtung sei oder eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Auch die Produktion des Kalenders «Nackte Tatsachen» für das Jahr 2022 löste kontroverse Reaktionen aus.

Eine enorme Kraft

An den Tagungen der GmR war immer wieder die enorme Kraft spürbar, die stärkt und motiviert. Wie ist diese entstanden? Anette Stade erklärt: «Es sind die Frauen, die diese Energie ineinander geweckt haben, was auch auf mich zurückgewirkt hat. Ich habe lediglich das Setting gemacht: Frauen in der Nachberufsphase sollen die Möglichkeit haben, mit anderen Frauen derselben Generation aus der ganzen Deutschschweiz zusammenzukommen und ausserhalb der Familie und ihres gewohnten Umfelds sich über Lebenserfahrungen auszutauschen, Anliegen einzubringen, Aktivitäten umzusetzen und auch offen über Tabuthemen zu reden. Dabei haben sie erfahren, dass es vielen anderen Frauen unter bestimmten gesellschaftspolitischen Umständen ähnlich ergangen ist. Das gibt Bestätigung und schafft Verständnis. Es entsteht ein Energiefeld, das stärkt, belebt und motiviert.»

Für die Projektleiterin ist die Vielfalt der ganz unterschiedlichen eigenständigen alten Frauen, die in ihrer Verschiedenheit auch Reibung erzeugt, faszinierend. «Da gab es die Rockband mit einer 75-jährigen Leadsängerin neben der politisch agierenden Manifestgruppe oder einer Gruppe, die sich mit der Endlichkeit beschäftigt. Sicher hatte ich persönlich gewisse Präferenzen für bestimmte Themen. Doch war mir wichtig, das grosse Ganze sichtbar zu machen. Die GmR bot mit der Website, dem Newsletter und der Projektleitung die Rahmenbedingungen, dass sich die Frauen auf die Inhalte konzentrieren konnten. Das war für mich auch das ‹Schmiermittel› für Tausende von freiwillig geleisteten Arbeitsstunden der Frauen und eine Form von Wertschätzung.»

Raum für neue Visionen

Anette Stade ist dankbar für die grosse Gestaltungsfreiheit, die ihr das MKP in diesem Projekt gegeben hat: «Sie war ein wichtiger Bestandteil für seinen Erfolg. Ich hatte sehr viel Freiheit, weil die Verantwortlichen wussten, dass ich mich an die Rahmenbedingungen halte. Diese waren sehr offen. Ich wusste wohl, dass das MKP keine Aktivitäten fördert, bei denen es nur um die individuelle Befindlichkeit geht. Förderungswürdige Projekte brauchen vielmehr eine gewisse gesellschaftliche Relevanz. Dank dieser Offenheit konnten wir neue Visionen zur Welt bringen mit dem zentralen Anliegen, alte Frauen in ihrer Vielfalt sicht- und hörbar werden zu lassen.»

Für Anette Stade liegt der Erfolg des Projektes vor allem auch im partizipativen und selbstorganisierten Ansatz. Sie betont: «Die beteiligten Frauen haben die Hauptarbeit geleistet.» Noch nie habe sie als Projekt- und Organisationsentwicklerin ein Projekt so lange begleitet. «Es war extrem spannend zu sehen, wie dynamisch es sich weiterentwickelt hat. Zudem hatte ich ganz tolle Arbeitsbedingungen, weil mir die Trägerschaft den nötigen Freiraum geboten hat. Erstmals habe ich mit Menschen zusammengearbeitet, die so grosse Netzwerke, Ressourcen, Erfahrungen und Wissen einbrachten, sodass ich auch immer wieder die Fragende war. Das war toll. Vor allem bot mir die GmR die Möglichkeit, mich mit Frauen der Müttergeneration anzufreunden. Dabei durfte ich erfahren, was wir aneinander haben, ohne dass wir uns, wie oft im familialen Rahmen, etwas beweisen müssen.»

Anette Stade, 1967, Dipl. soziokulturelle Animatorin und Team Coach, Mutter von vier Töchtern und seit anderthalb Jahren Grossmutter einer Enkeltochter.