Eine bunte Welt voller Energie, Ideen und Visionen

Von Monika Fischer

Jessica Schnelle ist seit 2012 beim Migros-Kulturprozent (MKP) verantwortlich für das Projekt GrossmütterRevolution. 

Sie sagt: «Die GmR hat mit ihren klaren Forderungen einen Beitrag an die Entwicklung einer solidarischen Gesellschaft geleistet und damit den Anspruch des Migros-Gründers Gottlieb Duttweiler umgesetzt.

In den 1950 mit seiner Frau Adele Duttweiler formulierten Thesen hielten diese fest: Wirtschaftliches Wachstum muss einhergehen mit gesellschaftlicher Entwicklung.»

Wie war dein erster Eindruck der GrossmütterRevolution?

Ich bin zwar erst seit 2012 als Projektleiterin bei der Direktion Gesellschaft und Kultur beim Migros-Genossenschafts-Bund (MGB) verantwortlich für das Projekt GrossmütterRevolution. Doch habe ich dieses schon in meiner vorherigen Funktion kennengelernt. Heinz Altorfer hatte mich seinerzeit eingeladen, doch einmal bei einer Tagung im Veranstaltungssaal des MGB am Limmatplatz in Zürich hineinzuschauen. Es war 2010 oder 2011. Bis zu dem Zeitpunkt war ich gewohnt, dass dort nüchterne Unternehmensveranstaltungen stattfinden im Sinne von: Eine Person spricht, die anderen hören zu. Diesmal war es ganz anders, ich war total überrascht. Der Saal mit den vielen Frauen war voller Leben. Neben Reden war viel Lachen zu hören. Und mitten drin stand Anette Stade, beschäftigt damit, die Ideen und Anregungen im lebhaften Austausch zu bündeln. Es war wie eine andere Welt, eine bunte Welt voller Energie, Ideen und Visionen.

Hat die GrossmütterRevolution dein Bild der GrossmütterGeneration verändert? 

Ja, das hat es, und wie! Ich bin in Deutschland aufgewachsen und dort waren die 1970er-Jahre politisch vom Linksterrorismus der Roten-Armee-Fraktion (RAF) gezeichnet. Der Aufbruch einer feministischen Frauenbewegung war mir nicht so stark präsent. Meine Grossmutter ist bald 90 und sowohl körperlich als auch geistig fit. Sie hatte nach ihrer Flucht aus Ostpreussen als junges Mädchen ein bewegtes Leben. Mit 40 hat sie sich scheiden lassen, musste sich eine neue Existenz aufbauen und hat dazu ein Studium aufgenommen. Vor kurzem hat sie ihren dritten Partner überlebt. Auch sie hat viel geleistet. Doch hat sie sich zumindest gegen aussen nie politisch engagiert wie viele Frauen der GmR. Mit dieser habe ich zum einen ein wichtiges Kapitel der Schweizer Geschichte, zum andern eine Generation von Frauen kennengelernt, die sich seit jeher für ihre Rechte einsetzen musste. Die einen taten es laut, die andern leise. Es gibt eine unglaubliche Vielfalt von unterschiedlichen alten Frauen, was mir vorher nicht bewusst war.

Was hat dich an der GrossmütterRevolution besonders beeindruckt?

Für mich sind die Frauen der GmR zu einem Vorbild geworden durch die Reife, mit der sie sich mit viel Engagement und ihrer Haltung des «Sowohl als auch» der Welt nähern. Dieses integrierende, grössere und weitere Denken finde ich enorm wichtig, um sich den gesellschaftlichen Fragen der Zukunft anzunehmen. Es ist in einer von Effizienz und Macht getriebenen Welt sehr anspruchsvoll. Und doch steht es für mich für eine Qualität, verschiedene Perspektiven miteinander zu verbinden und auf den sinnstiftenden Kern zu fokussieren. 

Warum war die GmR aus deiner Sicht seit ihrem Bestehen so erfolgreich?

Das ist sie wirklich. Gerne möchte ich ausführen, was ich damit meine. Der Erfolg zeigt sich für mich im Zusammenspiel der vielen, ganz unterschiedlichen, engagierten Frauen, die sich in einem von Anette Stade konsequent gesetzten Rahmen, in dem vieles Platz hatte, immer wieder mit anderen Themen auseinandergesetzt haben. Anette war neben der nötigen Bodenhaftung dafür besorgt, dass verschiedene Themen eine Stimme bekamen und klare Botschaften ausgesendet wurden. Keine andere Bewegung in der Schweiz steht so glaubwürdig für die Gleichberechtigung im Alter ein und ist dabei mit anderen AkteurInnen zu Fragen der Care-Thematik, Generationengerechtigkeit und neuen Altersbildern vernetzt. Die starken Frauen mit unterschiedlichen Biografien haben der Bewegung ein Gesicht gegeben mit Präzision, Verlässlichkeit ebenso wie mit Humor und Herzlichkeit.

Die Vielfalt der Themen macht die Vielfalt der Frauen sichtbar, die von der ganzen Gruppe der GmR mitgetragen werden. Ich frage mich, ob diese engagierte soziale Bewegung spezifisch ist für die Generation der vor 60 bis 80 Jahren geborenen Frauen und ob es für eine jüngere GrossmütterGeneration ähnlich sein wird. 

Welche Bedeutung hat die GrossmütterRevolution für die Gesellschaft?

Die GmR hat einer wichtigen Bevölkerungsgruppe, den alten Frauen, eine Stimme gegeben. Ihr Engagement hat auch damit zu tun, dass die aktuelle GrossmütterGeneration zu bestimmten Themen, z.B. Gleichstellungsfragen und Care-Arbeit, aus der Perspektive der Betroffenen eine andere Sicht hat. Die GmR zeigt, wie man sich verlauten lassen und die Gesellschaft mitgestalten kann: Indem man sich vernetzt und daraus Kraft schöpft, um auch die privaten Strukturen zu bearbeiten. Die Frauen der GmR zeigen immer wieder, wie Dinge auf lustvolle Art verändert werden können. Mit der Haltung des «Sowohl-als-auch» leben sie eine Art Weisheit vor, die helfen kann, mit den Problemen der Zukunft umzugehen.

Welche Bedeutung hatte die GrossmütterRevolution in den zwölf Jahren für das Migros-Kulturprozent?

Das Migros-Kulturprozent ist ein freiwilliges Engagement der Migros, seit 1957 in den Statuten verankert. Im Sozialen setzen wir mit unseren Mitteln zeitlich befristete Impulse, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. In den vergangenen Jahren fokussierten wir dabei auf Themen wie Zusammenleben, freiwilliges Engagement, Generationen oder neue Lernorte. Für das MKP war diese Art der Förderung ein Experiment in dem Sinne, dass über lange Zeit Mittel zur Verfügung gestellt wurden, ohne die programmatischen Inhalte vorzugeben. Dieses Experiment der − man kann sagen − partiellen Selbstorganisation war möglich dank der starken Frauen, die die Inhalte bestimmten und in Zusammenarbeit mit Anette Stade ihre gesellschaftliche Wirkung reflektiert haben. So hat die GmR einen Beitrag an die Entwicklung einer solidarischen Gesellschaft geleistet. Sie hat umgesetzt, was unser Anspruch seit dem Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler ist: «Wirtschaftliches Wachstum muss einhergehen mit gesellschaftlicher Entwicklung.» Dieser Satz stammt aus den 15 Thesen, die Gottlieb und Adele Duttweiler gemeinsam 1950 formuliert haben. 

Was hat die Begleitung der GrossmütterRevolution für dich persönlich gebracht?

Durch die GmR bin ich politischer geworden. Ich bin als junge Frau aufgewachsen mit dem Gefühl, ich könne alles erreichen, was ich will. Ich konnte die Früchte ernten von dem, wofür sich die Frauen der GrossmütterGeneration eingesetzt haben. Dank der GmR habe ich ein ganz anderes historisches und soziologisches Verständnis für strukturelle Ungleichheit bekommen. Dabei stellte ich mir persönlich immer wieder die Frage: Was kann mein gestaltender Beitrag sein mit dem, wie ich bin, was ich kann und in meiner Funktion und Verantwortung einer Förderinstitution? In diesem Sinne konnte ich ein anderes Selbstverständnis entwickeln. 

Was braucht es, damit die alten Frauen und ihre Anliegen in der GrossmütterRevolution auch in Zukunft sichtbar und hörbar sind?

Es ist mir bewusst, dass die Befristung unserer Förderung immer in eine sehr anspruchsvolle Phase führt, in der die potenzielle Eigenständigkeit eines Projekts auf den Prüfstand kommt. Und es ist mir auch bewusst, dass diese Projektphase für Menschen in der Lebensphase der GrossmütterGeneration eine grosse existenzielle Bedeutung haben kann. In Drei-Jahres-Abständen haben Anette Stade und ich mit den beteiligten Frauen des Matronats und der Regiogruppen über Nachhaltigkeit gesprochen, um verantwortungsvoll mit den Strukturen umzugehen. 

Wir haben stets eine sehr grosse Motivation wahrgenommen, sich im Hier und Jetzt für die Anliegen zu engagieren – klar, das ist das bestimmende Motiv einer Bewegung –, aber wenig Energie, die strukturellen Grundpfeiler in die eigenen Hände zu nehmen. Mit dem nun verbundenen Rückzug aus der strategischen und finanziellen Verantwortung müssen sich die beteiligten Frauen neu konstituieren. Es braucht dabei viel Selbstverständnis, was der spezifische Beitrag jeder einzelnen Frau sein kann und was es für das Weiterbestehen der GmR unbedingt braucht. Unerlässlich ist die Grundfinanzierung für eine Geschäftsstelle, damit die Bewegung funktioniert. Wichtig ist eine gute Vernetzung, damit die Diversität, die den Beteiligten so viel Kraft gibt, auch in Zukunft erhalten bleibt und auf unterschiedliche Fragestellungen spezifische Antworten möglich sind. Es braucht Solidarität, wenn Frauen sich zusammentun und sich gegenseitig in aktuellen Fragen und Themen unterstützen. Es ist eines der sinnvollsten Engagements, in der Gruppe lustvoll und mit klaren Forderungen Einfluss auf die Gesellschaft zu nehmen. 

Zum Abschied möchte ich danke sagen als Frau, die von der GmR profitieren konnte und immer wieder inspiriert wurde, Dinge anders zu denken. Denn die GmR ist Experiment und gleichzeitig Modell, was gemeinsam möglich ist. Ich hoffe und wünsche sehr, dass dies auch weiterhin gelingen wird.

Jessica Schnelle, 1977, Leiterin Soziales in der Direktion Gesellschaft und Kultur des Migros-Genossenschafts-Bundes. Mit ihrem Team verantwortet die promovierte Motivationspsychologin diverse Förderaktivitäten zur Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts.